FAZ, 29.03.2004:

Glück auf!

Der Bochumer Historiker Klaus Tenfelde wird sechzig

Von Andreas Rossmann

Seine berufliche Laufbahn beginnt in Borbeck, einem Vorort im Norden von Essen, und hat ihn bis nach Bochum geführt, wo heute am Südrand der Innenstadt sein Schreibtisch steht. Sehr weit gekommen scheint er nicht, nur dreißig Kilometer liegen zwischen beiden Orten. Doch wie Klaus Tenfelde, der seit 1995 den Lehrstuhl für Sozialgeschichte und soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität innehat, diesen Weg zurückgelegt hat, ergibt einen ungewöhnlichen und eindrucksvollen Werdegang: Als Vierzehnjäriger tritt er 1958 eine Lehre im Bergwerk Essen-Rossenray an. arbeitet zunächst als Bergknappe und dann drei Jahre als Polizeivollzugsbeamter im Bundesgrenzschut, ehe er 1967 das Abitur nachholt.

Das Studium führt den am 29. März 1944 in Erkelenz geborenen Sohn eines Schachtmeisters nach Münster und, mit einem Fulbright-Stipendium, in die Vereinigten Staaten, doch seine Biographie läßt ihn nicht los: "Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhrim 19. Jahrhundert" lautet 1975 der Titel der Dissertation, die die Formierung politischer Milieus untersucht. Auch in den zehn Jahren, die er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in München verbringt, hält er seiner Herkunft die Treue: Die Studie "Proletarische Provinz. Radikalismus und Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900-1945", mit der er 1981 habilitiert, portraitiert die kleine Bergbaustadt als "rote Insel", die sich gegenüber der Indoktrination durch die Nazis weitgehend immun erweist. Als 1985 aus der Berufung nach Essen nichts wird, übernimmt Tenfelde eine Professur in Innsbruck, von wo er 1990 nach Bielefeld wechselt. Der gemeinsam mit Gerhard A. Ritter verfaßte Band "Arbeiter im deutschen Kaiserreich 1871-1914" weitet und differenziert den Forschungsansatz der Reihe, indem er sozial-, politik-, organisations- und ideengeschichtliche Darstellungsteile gleichwertig und anschaulich verknüpft. Die "Bilder von Krupp" heben ein Schatz und öffnen dem Fach, ohne sich medientheoretisch zu belasten, Zugänge zur Fotografie als historischer Quelle.

Tenfelde ist auch als Wissenschaftler ein Malocher geblieben, sein Wirken in Bochum demonstriert es. Daß er das 1968 von Hans Mommsen gegründete Institut für internationale Arbeiterbewegung ausbaut und regionalisiert, ist nur der Anlauf zu einem Kraftakt, der auch ein Stück Strukturwandel darstellt: Mit der "Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets", von der er von der öffentlichen Hand und der Wirtschaft 10,6 Millionen Mark einwirbt, gründet er ein sozial- und geschichtswissenschaftliches Forschungszentrum, das die Bergbau-Bibliothek in Essen-Kray mit den vorhandenen Beständen sowie kleineren Bibliotheken und Archiven zusammenführt und fast eine halbe Millionen Titel vereint. Das Haus "Bergverlag" der ehemaligen IG Bergbau und Energie wird, vis-à-vis dem Schauspielhaus und fernab vom Campus gleich nach seiner Neueröffnung (F.A.Z. vom 29. 11. 1999) zum Scharnier zwischen Universität und Stadt, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Hier und von hier aus engagiert sich der Historiker auch wortgewaltig für die "Ruhrstadt", Die sich, so seine Vision, befreit vom Kommunalen Kirchturmdenken, zu einer lebendigen, urbanen Stadtregien entwickelt und in der industriellen Vergangenheit die sie einigende Identifikation findet. Tenfelde gehört zu einer, zumal im Revier, seltenen Spezies: Er ist ein Citoyen, aber kein Bourgeois, alles Bohemehafte ist ihm fremd. So hat er sich nicht im grünen Süden von Bochum, in Stiepel oder Querenburg, sondern im proletarisch geprägten Nordosten niedergelassen: In Gehrte bewohnt er eine ehemalige Steigervilla gleich neben jener 1967 stillgelegten Zeche Lothringen, die 1912 zu trauriger Berühmtheit kam: Nach einer Schlagwetterexplosion starben 116 Bergleute, und der Kaiser ließ sich herab, den Unglücksort aufzusuchen und den Hinterbliebenen zu kondolieren.

"Vati arbeitete im Pütt, die Tochter ging auf die Uni. Das ist eine zentrale Erfahrung dieser Generation", benennt Tenfelde ein Paradigma des Strukturwandels, der vom neuen "Ausbildungsbürgertum" getragen und von ihm, dem Historiker, der Bergknappe war, allegorisiert wird. Einer wie er, so heißt es unter seinen Kollegen, habe schon deshalb nicht Bergmann werden können, weil er viel zu groß und korpulent sei. Interssanter aber ist, eher umgekehrt, die Frage, ob er ein so profilierter Historiker wurde, weil er unter Tage gearbeitet hat. Über sie noch oft neu nachdenken zu dürfen ist ein Wunsch, den nicht nur seine zahlreichen Schüler heute, das Klaus Tenfelde sechzig Jahre alt wird, mit der ihm einzig gemäßen Grußformel verbinden: "Glück auf!"


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