WAZ, 24.05.2007, Lokalausgabe Bochum

Noch nicht frei und gerecht

Was lässt sich aus der emanzipatorischen Kraft der alten Arbeiterbewegung ins 21. Jahrhundert transportieren: Helga Grebings neues Buch über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung

Von Werner Conrad

Gibt es noch eine deutsche Arbeiterbewegung oder ist sie bloß Geschichte, gar Nostalgie oder Folklore nur, die an bestimmten Feiertagen mühsam in Erinnerung gebracht wird? Die Frage mag man - je nach Standort - höchst unterschiedlich beantworten. Und auch eine Expertin auf diesem Gebiet, Prof. Dr. Helga Grebing, immerhin Autorin des Klassikers "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ", 1966 erstmals erschienen, stellt sich in ihrem neuesten Buch die Frage, ob sie die Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland "gleichsam als eine Geschichte einer fremden, versunkenen Welt" schreibt.

Das hat sie nicht getan - soviel wurde bei der Vorstellung der "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung . Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert" am Dienstagabend im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets an der Clemensstraße deutlich. Dort, im Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Uni, das früher einmal Institut zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung hieß und das Grebing von 1988 bis zu ihrer Emeritierung 1995 leitete, sprach die renommierte Historikerin über ihre Beweggründe, "nach einigem Zögern nochmal" einen Überblick über 150 Jahre deutsche Arbeiterbewegung zu schreiben. "Es hat mit der alten Ausgabe nichts zu tun", sagte die 77-Jährige in der öffentlichen Veranstaltung, die sicherlich mehr Besucherinteresse verdient gehabt hätte. Sie habe nicht ihren Klassiker fortgeschrieben, sich vielmehr eher sozialgeschichtlich orientiert.

Grebings Antwort auf die Warum-Frage sei hier verraten: "Die Antwort mag sein, dass es gerade deshalb Zeit sein kann, zu überprüfen, ob und was sich an inhaltlicher Substanz und antreibenden Impulsen aus der Erinnerung an die emanzipatorische Kraft der alten Arbeiterbewegung gewinnen lässt, die auch für das 21. Jahrhundert taugen können. Das Projekt einer menschenwürdigen, sozial gerechten und politisch freien Gestaltung der Welt ist immer noch unabgeschlossen und bedroht, vielleicht mehr denn je." "Was mich getrieben hat", ergänzt die Wissenschaflterin an diesem Abend in Bochum, "ist die Frage, was ist sozusagen transportfähig aus der Geschichte der Arbeiterbewegung ins 21. Jahrhundert."

Die elf Kapitel, endend im Jahr 2000, werden ergänzt durch eine Zeittafel und Kurzbiografien.

Es gibt auch einige direkte Bochumer Bezüge. So verwies Helga Grebing selbst auf das Kapitel "Arbeit - ihre Bedeutung für die industrielle und die postindustrielle Gesellschaftsformation", das eingeleitet wird mit einem Aufruf von Ludger Hinse, damals Bevollmächtigter der IG Metall Bochum, zur Kundgebung "Bochum muss Stahlstandort bleiben" im Juni 1987. Übrigens formulierte schon damals dieser Aufruf eine Forderung, die heute unter anderem von Oberbürgermeisterin Dr. Ottilie Scholz gern wiederholt wird: "Arbeit muss finanziert werden und nicht Arbeitslosigkeit."

Begleitet wurde Helga Grebing bei der Präsentation ihres neuen Buches am Dienstag vom Institutsleiter Prof. Dr. Klaus Tenfelde und Dr. Karsten Rudolph, stellvertretender Vorsitzender der SPD-NRW, Landtagsabgeordneter und Privatdozent am Bochumer Institut für soziale Bewegungen.

Das Buch ist im Berliner Verlag "vorwärts buch" erschienen und kostet 24 Euro. "Ich habe nochmal neu angefangen zu denken": Helga Grebing stellte in Bochum ihr neues Buch vor. Rechts Professor Tenfelde, Leiter des Instituts für soziale Bewegungen. Foto: WAZ, M. Korte


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